Wiener Zeitung: Fortschritte bei der Transformation machen, wenn gleichzeitig das Geschäftsmodell wegbricht

Der staatlich finanzierte österreichische Verlag stellte während des Programms Table Stakes Europe seine gedruckte Ausgabe ein, überarbeitete seinen Internetauftritt, baute seine Redaktion um und testete im Rahmen von Audience-orientierten Experimenten verschiedene Storytelling-Formate. Das Hauptziel war, den öffentlich-rechtlichen Journalismus in Österreich neu zu erfinden, weg vom jahrhundertealten Erbe der gedruckten Meldungen, hin zu den grenzenlosen Möglichkeiten digitaler Nachrichten und Informationen, die die österreichischen Audiences für ein besseres Leben benötigen.


Die Wiener Zeitung war eine 1703 gegründete überregionale Tageszeitung mit Sitz in Wien, der Hauptstadt Österreichs, das rund 9 Mio. Einwohner zählt. Die mögliche Schließung der staatlichen Zeitung stand seit zwei Jahrzehnten im Raum, und im Oktober 2022 wurde dieses Szenario dann Realität. Damit begann der Prozess der strategischen Umwandlung des Unternehmens in eine öffentlich finanzierte rein digitale Organisation. Die Redaktion wurde 2023 grundlegend umgebaut: Ende Juni wurde die älteste Zeitung der Welt eingestellt, und am 1. Juli wurde eine neue Website gelauncht, die jetzt unter dem Namen WZ firmiert, um nicht mehr als Medium wahrgenommen zu werden, das nur über Wien berichtet. Sie richtet sich an junge Menschen zwischen 20 und 29 Jahren.

Als die WZ im Januar 2023 zu Table Stakes Europe stieß, hatte sie eine Auflage von insgesamt 8.000 Zeitungsabonnements. Nach Angaben des Service-Providers der WZ hat die gerelaunchte und erneuerte Website der WZ im November 2023 bis zu 3 Mio. Nutzer seit ihrem Start gehabt. Sie haben auch einen neuen TikTok-Kanal gestartet, der im November 2023 11.500 Follower hatte, und die Zahl der Instagram-Follower stieg von Juli bis November 2023 um 46 %.


Die Herausforderung, der sich das Team der Wiener Zeitung gegenübersah, als es sich am TSE-Programm beteiligte, war immens.

Sie waren nicht nur mit der möglichen Schließung der ältesten überregionalen Tageszeitung der Welt konfrontiert, sondern mussten auch eine Website entwickeln und mit neuen Content-Formaten neue Audiences, insbesondere die Generation Z, ansprechen und aufbauen.

Das Schicksal der Zeitung hing am seidenen Faden, als Anfang 2023 eine Gesetzesänderung anstand, die die Schließung der Zeitung im Laufe des Jahres einläuten sollte.

Die österreichischen Unternehmen waren nicht länger verpflichtet, für die Veröffentlichung öffentlicher Bekanntmachungen zu zahlen, sodass die Tageszeitung unrentabel wurde und am 30. Juni eingestellt werden musste. (Übrigens bedeutete diese Schließung, dass eine andere TSE-Teilnehmerin, die Hildesheimer Allgemeine Zeitung, nun die wahrscheinlich älteste gedruckte Zeitung der Welt ist.)

Die Zahl der Journalisten sollte um etwa 60 % reduziert werden, von etwa 55 auf 20 Personen.

Mit internem Widerstand gegen die Umgestaltung war zu rechnen. Er war groß und verstärkte den Druck auf die TSE-Change-Agents.

Für das Team unter der Leitung von Projektmanagerin  Hannah Schaefer und Katharina Schmidt, Product Owner und designierte Chefredakteurin, stellte es eine weitere Herausforderung dar, die es zu bewältigen galt: Zeitungsjournalisten kämpften für den Erhalt der Print-Ausgabe, und Politiker diskutierten im österreichischen Parlament über die Zukunft der Zeitung.

Doch die Leserschaft der Zeitung mit einer Auflage von 8.000 Stück, hauptsächlich Menschen über 65 Jahren, war rückläufig. Eine Neuausrichtung und die Suche nach neuen Audiences waren daher für den Fortbestand des Unternehmens unerlässlich.

Vor diesem Hintergrund entwickelte das TSE-Team eine neue Website mit neuen Formaten, die am 1. Juli online gehen sollte. Gleichzeitig sah es sich mit Plänen konfrontiert, die noch in der Schwebe waren, darunter die Möglichkeit, eine Zeitschrift herauszugeben, über deren Druckauflage und Erscheinungshäufigkeit noch zu entscheiden war.

Das TSE-Team hatte noch eine weitere Einschränkung zu verkraften: Es war gesetzlich verpflichtet, nur bestimmte Themen wie Politik, Bildung, Österreich als Wirtschaftsmacht, Geschichte, Wissenschaft und die Europäische Union zu behandeln.

Entwicklung neuer Formate und Kanäle

In der Zwischenzeit verfolgte das TSE-Team, darunter die Projektmanager Jan Forobosko und Verena Götzner, den Minimal-Viable-Product-Ansatz, um die Website rechtzeitig online gehen zu lassen. Es führte in kleinem Umfang Nutzertests zu Artikeln über Wirtschaft, Gesellschaft, Europa und Umwelt durch.

Sie setzten auf personalisierten Content, wobei die Nutzer entscheiden können, ob sie Inhalte lieber lesen, hören oder anschauen wollen, und eine Hör- oder Leseliste anlegen können. So testeten sie andere Formate wie Podcasts und Videos und erstellten zudem fertige Inhalte für TikTok.

Das Team arbeitete mit Zielvorgaben, z. B. vier Podcast-Episoden für den Launch-Monat Juli produzieren und dann jede Woche neue Folgen veröffentlichen.

Außerdem hatten die Wiener eine Zielvorgabe von 14 vorgeschriebenen Artikeln und planten, nach dem Launch ein bis drei Artikel pro Tag zu veröffentlichen. Das Vorhaben eine  Zeitschrift zu veröffentlichen wurde auf das Jahr 2024 verschoben.

„Wir haben erkannt, dass wir angesichts unserer vorhandenen Ressourcen und der Vielzahl von Anbietern auf dem Markt nicht die erste Quelle für Breaking News sein können. Stattdessen haben wir uns bewusst dafür entschieden, Inhalte zu veröffentlichen, die auf unsere Ziel-Audience zugeschnitten, von höchster Qualität und konstruktiv sind“, so Hannah Schaefer.

Zu den „Early Wins“ zählten:

  • weniger technische Schwierigkeiten,
  • die erforderliche Anzahl vorbereiteter Artikel parat zu haben,
  • Erstellung eines MVP mit einer neuen Homepage und Social-Media-Inhalten, die sich an jüngere Audiences richten, sowie Podcasts und Videos,
  • Entwicklung von KPI, die für jedes Produkt die Verweildauer auf der Seite umfassen.

Als der Tag der Zeitungsschließung immer näher rückte, legte sich der Ärger in der Redaktion allmählich.

Nach den erfolgten Kündigungen konnte die Redaktionsleitung mit der Schaffung einer inklusiveren Belegschaft fortfahren, um die Menschen an einen Tisch zu bringen und Probleme schnell zu lösen. In diesem Zusammenhang wurde ein Buddy-System eingeführt, bei dem die neuen Mitglieder des Digital-Teams, die zuvor im Print-Bereich gearbeitet hatten, einen Ansprechpartner hatten, an den sie sich bei Problemen oder Weiterbildungsfragen wenden konnten.

Im Laufe des Projekts hat das TSE-Team auch den Auftritt in den sozialen Medien umgestaltet, neue Audiences ermittelt, 16 Podcasts produziert, kurze Dokumentarfilme mit mehr als 580.000 Aufrufen auf YouTube veröffentlicht, zwei Newsletter erstellt und zwei spezielle TikTok-Serien produziert. Die Hinzuziehung externer Unternehmen, wie z. B. eines Digitalverlags, der die Social-Media-Inhalte der WZ produziert, war von entscheidender Bedeutung.

Das Team in Wien hat sich auch angesehen, was nicht fortgeführt werden konnte, wie z. B.:

  • die Berichterstattung über Pressekonferenzen und
  • die Veröffentlichung von Basisdienst-Texten der Nachrichtenagenturen.
  • Sie wollen auch weniger Meetings abhalten.

Den Weg zu digitalem Erfolg ebnen

In der ersten Zeit nach dem Launch hatte die WZ 750.000 Unique User pro Monat. Die Instagram-Zahlen stiegen in den ersten drei Wochen um ein Drittel. Im September brachten sie einen Newsletter zum Thema Politik heraus, und für die kommenden Monate sind weitere Themen-Newsletter geplant.

Seitdem haben die Wiener einen namhaften Influencer als Autor gewonnen, der Nutzer der Generation Z anspricht. Ein Meinungsartikel zum Thema Antisemitismus, der mehr als 5 % aller Besuche verzeichnete, ging viral, und die Seitenaufrufe verdoppelten sich von September bis Oktober.

Die Zahl der Instagram-Nutzer stieg um 46 % auf 17.400, die der TikTok-Nutzer auf 11.500 und die der Newsletter-Abonnenten auf 12.000.

Die Redaktion hat neue Kanäle eingerichtet und verzeichnet in Bezug auf Follower und Interaktion insgesamt ein konstantes Wachstum. Von ihrem Launch bis November hat die WZ nach Angaben ihres Service-Providers bis zu 3 Mio. Nutzer gehabt.

„Alle gewöhnen sich an die Arbeit für Ziel-Audiences“, so Katharina Schmidt. „Alle sind offen für neue Formen des Journalismus, und in der Redaktion herrscht eine Audience-Orientierung vor. Darüber hinaus hat unsere Berichterstattung Wirkung gezeigt und wurde ausgiebig zitiert.“

Das Team hat noch viel vor und will seine Reichweite über alle ihre Produkte hinweg erhöhen und sie 2024 unter der Marke WZ zusammenführen. Das Ziel ist es, die Zahl der Newsletter-Abonnenten bis Juli 2024 um 50 % zu erhöhen, die Zahl der Podcast-Hörer zu verdoppeln und die Zugriffe auf die Artikel von Monat zu Monat zu steigern.