Süddeutsche Zeitung: Wie kann man den Wandel vorantreiben, wenn es eigentlich noch ganz gut läuft?

Bei entsprechender Bedrohungslage sind Veränderung und Transformation für Verlage unausweichlich. Doch für die Süddeutsche Zeitung (SZ) gab es keine Bedrohung – zumindest was die Digitalabos angeht. Deutschlands größte Qualitätstageszeitung hatte in den letzten Jahren bereits tiefgreifende Veränderungen durchlaufen und konnte ihren Abonnentenstamm Monat für Monat steigern – schon bevor sie zu Table Stakes Europe stieß.


Die in München ansässige Süddeutsche Zeitung (SZ) ist mit mehr als 500 Journalisten und Korrespondenten in der ganzen Welt eine der größten deutschen Tageszeitungen. 2015 führte der Verlag eine Online-Paywall ein. Ende 2023 hatte sie 170.000 Print-Abonnenten und 295.000 Digital-Abonnenten.


Von Hannes Vollmuth,
Leitender Redakteur für Digitalstrategie und Innovation

Kaum hatten wir angefangen, tauchte schon ein Problem auf.

Das Table-Stakes-Team der SZ – vier Redakteure, zwei Designer, ein Analyst – war gespannt auf den neuen Input aus dem Programm. Wir waren beeindruckt von der Methodik, den „Von-zu“-Statements, der Power/Opinion Matrix und dem Rahmen des „Audiences-First“-Journalismus, umgesetzt durch Experimente und Lernprozesse. Die Tools, die Trainer und der Spirit des Programms haben uns begeistert.

Als wir jedoch versuchten, das Gelernte auf unsere Redaktion anzuwenden, bissen wir auf Granit. Egal, an wen wir uns wandten, kaum jemand war bereit, einem Experiment zuzustimmen. Jedes Mal, wenn wir nach einer Workshop-Sitzung bestimmte Ideen vorschlugen, machten die Ressorts, die Teams und die Redakteure einen Rückzieher. Unser Karren mit der ganzen Table-Stakes-Theorie war also festgefahren.

Erfindung des SZ Abo-Shops

Erst einige Monate später, im März, als der TSE-Jahrgang 2023 in Brüssel zusammentraf, wurde uns klar, woran es lag. Am Anfang jeder Transformation, jeder Table-Stakes-Challenge muss immer eine Unzufriedenheit stehen. Ohne das Bewusstsein, dass der Status quo ein Problem darstellt, gibt es keine Transformation.

Im März 2023 hat die SZ die Marke von 250.000 Digital-Abonnenten geknackt: ein großer Erfolg. Doch hinter diesen Abonnentenzahlen verbarg sich ein Problem. Unsere Marke ist stark, unsere digitalen Produkte sind gut, und wir haben in Sachen „Digital-First“ schon viel erreicht. Aber zu „Audiences-First“ hatten wir es noch nicht geschafft. Das heißt, unsere Redaktion fühlte sich ganz wohl dabei, für eine allgemeine SZ-Leserschaft zu schreiben – jetzt mit digitalen Tools und Arbeitsabläufen.

Dann, in Brüssel, sagte der leitende Coach Doug Smith etwas sehr Wichtiges zu uns: „Ihr seid der SZ Abo-Shop.” Und er erklärte warum.

Es gibt vier Möglichkeiten, Menschen zum Mitmachen zu bewegen:

  • Der Chef schafft es an (der klassische Weg).
  • Eine Teamdynamik ermöglicht es (der emotionale Weg).
  • Eine Gruppe ist von Neugier angetrieben (der avantgardistische Weg).
  • Ein Team lässt sich für eine Gegenleistung darauf ein (der Quid pro quo-Weg).

Die letzte Möglichkeit war (und ist immer noch) unser Weg: Quid pro quo. Ein Tauschhandel. Wir stiegen also ins Geschäft ein – und „eröffneten“ den SZ Abo-Shop.

Was haben wir als SZ Abo-Shop gemacht? Einfach gesagt: Ressorts, Teams oder einzelne Redakteure ansprechen und fragen, ob sie daran interessiert wären, eine Audience für ihren Content aufzubauen. Wir haben kein Patentrezept für die Gewinnung von Digital-Abonnenten, aber wir haben einen Rahmen, der funktioniert.

Ins Geschäft kommen mit dem Technologie-Ressort

Einer unserer ersten „Kunden“ – neben der Abteilung für politische Bücher und dem Bildungsteam – war das Techologie-Ressort, ein Team von Redakteuren, die sich mit künstlicher Intelligenz befassten und seit dem Start von ChatGPT viel zu tun hatten.

In einem 15-minütigen Treffen erklärten wir ihnen, was wir anzubieten hatten und was wir im Gegenzug erwarteten, nämlich etwas Zeit und einige Inhalte – das war sozusagen unser Preisschild.

Danach hatten wir zwei weitere kurze Telefongespräche, in denen wir uns darauf einigten, wie viel Zeit und Aufwand sie in dieses erste Experiment stecken würden – man könnte es als kurze Verhandlungsphase bezeichnen. Schließlich beschlossen wir, einen 45-minütigen (!) Workshop zu den folgenden fünf Themen abzuhalten:

  • Welche SZ-Audience möchten wir mit den KI-Inhalten dieses Experiments erreichen?
    (Altersgruppe 50/60+)
  • Welche Nutzerbedürfnisse gibt es in dieser Gruppe? (möchte mich informieren, brauche Hilfe)
  • Welches Format eignet sich für diese Nutzerbedürfnisse (Erklärtext)?
  • Wie viel Content wollen wir ihnen pro Woche bereitstellen (1 Beitrag) und was ist der jeweilige Blickwinkel?
  • Deadline und Länge der einzelnen Beiträge (das wird in unserer Redaktion in der Regel ganz am Anfang und nicht am Ende eines jeden Jobs entschieden – also in genau umgekehrter Reihenfolge wie bei uns)?

Sobald wir den Beitrag hatten, redigierten und produzierten wir ihn – und kümmerten uns um jeden einzelnen Aspekt des Kuratierens auf allen möglichen Plattformen. Wir führten Gespräche mit den Redakteuren der Homepage und den Verantwortlichen für das Ressort soziale Medien und den Newsletter.

Das Ergebnis war eine Verfünffachung der Lesezugriffe von Abonnenten – im Vergleich zu einem durchschnittlichen Technikartikel. Und als wir dann unsere Methode noch weiter verfeinert hatten: eine Versiebenfachung.

Am Ende schrieb uns ein Reporter einen der schönsten Klappentexte unseres SZ-Abo-Shop-Jahres: „Der Text wäre so nie geschrieben worden. … Ich habe ein vages Bild von einer durchschnittlichen SZ-Person im Kopf, an deren Interessen und Wissensstand ich mich orientiere. Die Tatsache, dass unsere Leserschaft wesentlich vielfältiger ist und dass es sich auch lohnt, spezifische Audiences anzusprechen, berücksichtige ich selten.“

Liste der Services des SZ Abo-Shops

Das war das Beste am SZ Abo-Shop: Man konnte unsere Services in Anspruch nehmen, musste es aber nicht. Dem Angebot war jedoch schwer zu widerstehen. Insbesondere, weil der Service in verschieden großen Paketen angeboten wurde. Nachfolgend ist eine nicht erschöpfende Liste von Dingen aufgeführt, die wir verschiedenen internen „Kunden“ angeboten und mit ihnen gemacht haben, immer mit dem Ziel, „Audiences-First“-Inhalte zu erstellen, um die Leserschaft zu erhöhen.

  • Workshops über Audiences und Nutzerbedürfnisse
  • Datenanalyse-Services
  • Content-Entwicklung
  • Format-Entwicklung
  • Redaktion, Produktion und Kuratieren
  • Stakeholder-Management
  • Manöverkritik
  • Inspiration und Material zum Thema Audiences und Audience-Bedürfnisse in allen Formen
  • Unterstützung und Beratung bei Veränderungen
  • Kaffee

Die an den Experimenten teilnehmenden Teams konnten zumeist große Erfolge verbuchen. Die für das Experiment erstellten Artikel und Geschichten kamen bei den verschiedenen SZ-Audiences so gut an, dass wir neuen, potenziellen Teams am Ende des Jahres sagen mussten: „Überlegt in aller Ruhe, ob dieser Ansatz etwas für euch ist, aber seid euch bewusst, dass wir fast ausgebucht sind.“

Womit der SZ Abo-Shop zu kämpfen hatte

Beim SZ Abo-Shop sollte nicht übersehen werden, dass es eine eher ungewöhnliche, recht beschwerliche Methode ist, das Transformationsgeschäft zu betreiben – mit vielen Höhen, aber auch einigen Tiefen. Hier eine weitere, nicht erschöpfende Liste unserer Challenges:

  • Einige Redaktionsteams und Redakteure waren nicht an unserem Service interessiert, oft weil sie in andere Change-Projekte eingebunden waren.
  • Einige nahmen unseren Service an, zögerten dann aber und winkten schließlich ab.
  • Einmalige Deals waren nicht nachhaltig.
  • Anfangs war die Begeisterung über unser Produkt – „Audiences-First“-Experimente – immer groß. Aber die Kosten – Zeit und Content – haben einige Redakteure und Reporter letztlich entmutigt.
  • Die Skalierung unseres Kundenstamms verlief sehr langsam, der Durchbruch gelang erst nach 10 bis 11 Monaten.

Erkenntnisse

Quid pro quo ist jedenfalls ein Instrument, das jeder Transformationsverantwortliche in seiner Toolbox haben sollte. Unserer SZ Abo-Shop hat funktioniert! Es sollte nicht der einzige Weg sein, um langfristig ein „Audiences-First“-Denken in der Redaktion zu etablieren, ist aber vor allem in der Anfangsphase und für bestimmte Teams und Ressorts wirkungsvoll.

Am Ende unseres SZ-Abo-Shop-Jahres hatten wir ein Gespräch mit unserem Chefredakteur über unsere Erfahrungen (ein weiterer Pitch). Er hat sofort verstanden und vorgeschlagen, dass 2024 zwei Ressorts diesen Rahmen übernehmen sollten. Das wäre dann kein Quid pro quo mehr, sondern: „Der Chef schafft es an.“

Das war vielleicht unser größtes Geschäft: Den SZ Abo-Shop in eine feste Institution zu verwandeln.